MY THINKING

Europa, quo vadis?

Hugo Portisch schrieb 2011 – mitten in den dramatischen Nachwirkungen der Finanzkrise 2008 – in seinem Buch „Was jetzt?“: „Die Welt ist aus den Fugen. Die Lage ist ernst. Die Frage scheint berechtigt: Ist Europa noch zu retten? Unsere Währung, der Euro? Wer hat eigentlich diese EU erfunden? Wer und weshalb? Ist man uns da nicht eine Menge Antworten schuldig geblieben?“

Diese (rhetorischen) Fragen von Portisch sind sechs Jahre später mehr denn je aktuell, sein Dictum, dass die Welt aus den Fugen sei, ist wohl unübersehbar gültig, denken wir nur an die schwelende Euro Krise (zugedeckt durch die brennende Migrationskrise), Griechenland, das wirtschaftlich taumelnde Italien, die unabsehbaren Folgen des BREXIT, die globalen, nicht abschätzbaren Auswirkungen der US Präsidentenwahlen, die Lage in der Türkei und Syrien, etc. In einem Interview mit dem ZDF Mitte Dezember 2016 räumte EU Kommissionspräsident Juncker ein, dass die EU in tiefen Schwierigkeiten stecke. Zum ersten Mal müsse die Gemeinschaft nicht nur eine Krise bewältigen. „Diesmal haben wir es mit einer Polykrise zu tun. Es brennt an allen Ecken und Enden – nicht nur an europäischen Ecken und Enden”, sagte Juncker. Der Kommissionspräsident zeigte auch Verständnis für den Vertrauensverlust vieler EU-Bürger. Eines kann aber zweifelsfrei trotz aller Unwägbarkeiten heute schon gesagt werden: Europa (und nicht nur die EU!) muss sich gleichsam neu erfinden und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Was bedeutet das jedoch für uns alle? Zurück an den Start? Und wo wäre dieser Startpunkt?

An dieser Stelle muss ich einen Zwischenstopp einlegen und – um möglichen Missverständnissen vorzubeugen – klärend festhalten:

  • Diese Abhandlung ist kein wissenschaftlicher Beitrag (wiewohl ich einiges an Literatur und Presseartikeln recherchiert habe) und erhebt auch keinen Anspruch auf Prognosefestigkeit, besondere Genauigkeit oder gar Vollständigkeit der Analyse.
  • Es handelt sich um meine persönlichen Reflexionen, basierend auf meiner großen Begeisterung für das Europäische Ganze, die Errungenschaften der Aufklärung und der humanistischen Tradition in Europa, meiner jahrelangen internationalen Tätigkeit, meinen Erfahrungen mit den Europäischen Institutionen und meinem steten Verfolgen des politischen und wirtschaftlichen Geschehens.

Der amerikanische Irrtum

Ich möchte nun zu einigen unmittelbaren Beobachtungen aus meiner beruflichen Tätigkeit kommen: Ein Teil meiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit besteht darin, US-amerikanischen Kunden aus dem Bereich der Digitalen Industrie zu erklären, wie das ordnungspolitische und regulatorische Umfeld in Europa funktioniert und wie/wo sie ihre Interessen deponieren können.

US Firmen wissen, wie sie ihre Interessen in den USA vertreten müssen, nämlich an einem zentralen Ort, symbolisch gesprochen dem Capitol Hill in Washington DC. Einem (unzulässigen) Analogieschluss folgend meinen einige von ihnen daher intuitiv, dass sie mit ihren Anliegen in Europa zum Berlaymont Gebäude, dem Sitz der Europäischen Kommission und zum 500 Meter entfernten Gebäude des Europäischen Parlaments gehen müssen um sich zu artikulieren. Das Erstaunen ist oft groß, wenn ich ihnen erkläre, dass dies eine notwendige jedoch keineswegs hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung ihrer Interessen darstellt, weil sie zusätzlich zu Brüssel in den Kapitolen (zumindestens) der größten Mitgliedsstaaten der Union präsent sein müssen.

Henry Kissinger: Mir fehlt Europas Telefonnummer.

Das erinnert ein wenig an das berühmte Zitat von Henry Kissinger, der einmal meinte, wenn er mit Europa sprechen wolle, fehle ihm die (eine) Telefonnummer, unter der das politische Europa erreichbar wäre. Nun, das hat sich seit der Einführung der permanenten Ratspräsidentschaft und der Position des EU Außenbeauftragten (genauer: „Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“) etwas verbessert, beschreibt jedoch immer noch plastisch einen Teil des komplexen (EU-) Europäischen Systems.

Die europäische Ordnung

Seit fast 15 Jahren beschäftige ich mich mit Fragen der Ordnungspolitik („Regulierung“) des Digitalen Sektors in Europa. Meine Erfahrungen beruhen auf meiner diesbezüglichen nationalen Tätigkeit in Österreich und jener als Chairman der Europäischen Dachorganisation der nationalen Regulatoren (BEREC).

Mit Hilfe eines neuen Rechtssetzungsaktes, der im September 2016 veröffentlicht wurde, schlägt nun die Europäische Kommission vor, BEREC zu einer sogenannten EU Agency auszubauen, ein Vorhaben, das mir aufgrund der geplanten Bildung eines Digitalen Binnenmarktes in Europa überlegenswert erscheint. Die Weiterentwicklung von BEREC sollte letztlich nach einem Multilevel Governance (MLG) Ansatz erfolgen, als eine in der Soziologie und politischen Wissenschaft intensiv diskutierte Integrationstheorie.

Bezogen auf die Integrationsforschung ist MLG ein beliebter Ansatz, sei es, um es positiv zu formulieren, dass er der Komplexität europäischen Regierens Rechnung trägt, oder sei es, um es kritischer auszudrücken, weil die Theorie ergebnisoffen in dem Sinne ist, dass sie sich nicht festlegen will welche Akteure die treibenden Kräfte hinter der Integration sind, sondern sich dies je nach Gegebenheit der Lage neu herausstellt. Um beim Beispiel BEREC zu bleiben, heißt der MLG Ansatz konkret für das Governance System, dass das Generaldirektorat für die Digitale Wirtschaft (DG CONNECT) der Europäischen Kommission (EK) sich (deutlich stärker als bisher) um das vernachlässigte Thema des Policy Setting kümmern muss, BEREC aus den Europäischen Rechtssetzungen (die vom Europäischen Parlament kommen) Grundsätze und Prinzipien ableiten sollte und die nationalen Behörden diese Grundsätze und Prinzipien unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten umsetzen müssen.

Ende der 1990er Jahre hat sich jedenfalls ein breiter Konsens darüber entwickelt, dass die Europäische Integration ein Netzwerk souveräner Nationalstaaten in eine MLG Architektur transformiert hat. Aktuell ist dieser Konsens verloren gegangen und es gibt dominante Strömungen in Europa, die genau diese Entwicklung als schädlich einstufen und eine tiefere Integration Europas verhindern wollen, ja sogar bereits erzielte Integrationsschritte wieder rückgängig machen wollen.

In diesem Sinne sind die meisten Mitgliedsstaaten skeptisch gegenüber einer Transformation von BEREC in eine EU Agency, weil sie nicht (noch mehr) Kompetenzen an „Brüssel“ abgeben wollen, um die Unabhängigkeit von BEREC besorgt sind und unter der Überschrift „Subsidiarität“ vielmehr Kompetenzen wieder in die Nationalstaaten und ihre Behörden rückverlagern wollen. Hier sieht man deutlich die Dichotomie zwischen Zentralismus und Subsidiarität (Föderalismus). Unter Föderalismus verstehen die Zentralisten eine Spielart des Separatismus und Mangel an Effizienz. Unter Zentralismus verstehen die Föderalisten den totalitären Staat und kritisieren diesen Ansatz unter dem Motto „one size doesn’t fit all“. Besser können sich beide Lager wohl nicht mehr eingraben.

Föderalismus und Zentralismus

An dieser Stelle empfiehlt sich ein kurzer Exkurs zum Spannungsverhältnis Zentralismus vs. Subsidiarität. Aus meiner Sicht gibt es hier kein „entweder – oder“. Man sieht leicht ein, dass Müllentsorgung, Wasserversorgung und Abwasser Entsorgung am effizientesten lokal oder regional organisiert werden, allerdings nach supranationalen Standards. Arbeitnehmerschutzvorschriften lassen sich wohl auch nicht beliebig harmonisieren, weil die Anforderungen im Norden Europas andere sind als im Süden. Andererseits kann die Lösung von Problemen wie Klimawandel, Luftverschmutzung, nachhaltige Bewirtschaftung der Meere, etc. nur supranational gelöst werden.

Um ein Beispiel aus meiner beruflichen Tätigkeit für supranationalen Handlungsbedarf zu wählen, wäre z.B. die Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter zu erwähnen. Warum soll ich Nutzungsrechte für digitalen Content, den ich in einem Mitgliedsstaat des digitalen Binnenmarktes der EU bezahlt habe nicht auf Reisen innerhalb der EU mitnehmen können? Ich denke, dass diese Beispiele zeigen, dass es sich bei dieser Debatte um ein zwar wichtiges Binnenmarkt Thema, jedoch keineswegs um den Kern der EU Polykrise handelt.

Barockes Österreich

Die Debatte Föderalismus vs. Zentralismus auf EU Ebene lässt sich übrigens auch auf die Ebene der Mitgliedsstaaten transponieren, z.B. in Österreich mit teils barocken Auswüchsen: abgesehen davon, dass es sich für viele politische Beobachter nicht erschließt, warum in einem so kleinen Land wie Österreich neun verschiedene Bauordnungen, Jugendschutzbestimmungen, Jagdordnungen, etc. gepflegt werden müssen und neun Landesparlamente diese Folklore unter der Überschrift „Bürgernähe“ liebevoll pflegen, liegt das Hauptproblem im Auseinanderklaffen von Ausgabenentscheidungen und die Verantwortlichkeit für deren Finanzierung. Prominentes Negativbeispiel dafür ist der Bildungsbereich.

Dazu kommt ein weitgehend intransparentes Förderwesen in jedem Bundesland das oftmals feudale Züge aufweist. Neben dem Auseinanderklaffen von Finanzierungs-, Aufgaben- und Ausgabenverantwortung gehören Kompetenzzersplitterungen und Parallelstrukturen, ein komplexes Aufgaben- und Transfergeflecht sowie ein unzureichend aussagekräftiges Rechnungswesen in Ländern und Gemeinden zu den Problematiken in einem derartigen föderalen System. Ein ökonomisch effizientes System würde hingegen erfordern, dass die Durchführungs- und Finanzierungsverantwortung möglichst in einer Hand liegen. Dies schafft Anreize zum effizienten und sparsamen Einsatz von öffentlichen Mitteln.

Lehrbeispiel des Populismus

Das BREXIT Referendum und das Narrativ seiner Protagonisten verdient es, einen Blick darauf zu werfen. Das Ganze war von seinen Erfindern offenbar niemals als tatsächlicher Austritt aus der EU geplant, vielmehr als ein allerdings gründlich daneben gegangenes Experiment unter dem Titel „Tory Party Management“ um störrische und traditionell EU-kritische Funktionäre in den eigenen Reihen ruhig zu stellen. Am Tag nach dem für alle überraschenden Ergebnis haben sich bekanntlich die Protagonisten dieses Experiments allesamt mit den bezeichnenden Worten von Nigel Farage „I want my life back“ verabschiedet und ungeniert – allerdings folgenlos – zugegeben, dass die Zahlen und Behauptungen, mit denen sie argumentiert haben, einfach falsch waren. Diese Erkenntnis hindert Herrn Farage und andere gleichgesinnte Populisten im EU Parlament jedoch nicht daran, das Gehalt als Abgeordneter einer von ihnen abgelehnten Institution einzustecken und an der „Zerstörung der EU“ (Zitat Farage) zu arbeiten.

Das Ganze ist ein perfektes Lehrbeispiel, wohin Populismus führt! Nun, nach aller Wahrscheinlichkeit wird es irgendwann tatsächlich zu einem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU kommen; der wirtschaftliche Schaden ist bereits manifest geworden und wird sich weiter bemerkbar machen. Noch größer ist allerdings der politische Schaden für die EU, der sich an drei Komponenten festmachen lässt:

  1. der Austrittsprozess wird unglaublich mühsam werden und viele Kräfte auf Seiten der EU binden, Kräfte, die für die Lösung der Polykrise dann nicht mehr – oder nur eingeschränkt – verfügbar sind.
  2. Das Vereinigte Königreich mit seiner liberalen weltoffenen Wirtschaftspolitik wird auch der EU als Gegengewicht zu den Südländern der Union fehlen, womit dem Schiff der EU eine „Schlagseite nach Süden“ mit seinen problematischen Wirtschaftsdoktrinen droht.
  3. Mit einem Schlag wird die EU damit auch an wirtschaftlicher und technologischer Schlagkraft im globalen Wettbewerb und damit an politischer Stärke verlieren.

Resümee: unter dem Strich verlieren Europa und das Vereinigte Königreich durch den BREXIT und die globalen Wettbewerber werden darüber erfreut sein. Abschließend möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass am Tag nach dem BREXIT Referendum und den davon ausgelösten Schockwellen, etwas mehr Fähigkeit zur Selbstkritik bei einigen EU Officials angebracht gewesen wäre.

Nährboden für Populismus

Nun zur Analyse über die treibenden Faktoren hinter dieser Entwicklung: die Symptome der gegenwärtigen Polykrise erzeugen oftmals Ratlosigkeit bei den Regierenden und Vertrauensverlust bei den Bürgern. Diese Gemengelage ist gleichzeitig der Nährboden für die in allen Mitgliedsstaaten präsenten Populisten, die allesamt in die politische Mottenkiste greifen, eine Rückbesinnung auf den starken Nationalstaat propagieren, Europäische Solidarität verweigern und gleichzeitig die Hand nach den EU Fördermitteln aufhalten. Der größte Trugschluss der sich hinter diesem politischen Konzept (besser der politischen Sackgasse) verbirgt ist jedoch die Tatsache, dass von der Idee des starken Nationalstaates (vor allem in Deutschland, Japan, Italien und auch in Österreich, um nur einige zu nennen) die größten globalen Tragödien die die Menschheit zu durchleiden hatte, ausgegangen sind, nämlich der 1. und 2. Weltkrieg.

Ein kurzer Exkurs in die USA: es sollte nicht vergessen werden, dass die föderale Integration der Vereinigten Staaten aus einer Situation hervorgegangen ist, die einige Parallelen zur heutigen Lage in Europa aufweist: vor der Integration der USA stand bekanntlich der amerikanische Bürgerkrieg mit dem das koloniale Erbe des Landes neu sortiert wurde. Diese Phase der Geschichte – ein Bürgerkrieg – kann sich wohl niemand für Europa wünschen und das sollte den Propagandisten des Modells „starker Europäischer Nationalstaat“ ins Stammbuch geschrieben sein und allen als Warnung dienen.

Was wird vom Schengen Raum und vom Euro bleiben?

Ein wesentliches Element – wenn nicht das entscheidende – all dieses verbreiteten Unbehagens und der Ratlosigkeit vieler handelnder Personen ist meiner Meinung nach das Fehlen einer „finalen“ Vision für Europa. Worin besteht das integrationspolitsche Endziel für Europa, z.B. in Form einer Föderation o.ä.? Welche Rolle sollen die EFTA Länder und die Schweiz spielen, welche Rolle ein post- Brexit-UK? Was wird vom Schengen Raum und vom Euro bleiben?

Dazu passt die visionäre Publikation „Für Europa – Ein Manifest“, entwickelt von Verhofstadt und Cohn-Bendit 2012. Der Belgier Guy Verhofstadt, der von 1999 bis 2008 in Brüssel regierte, und der Deutsch-Franzose Daniel Cohn-Bendit, der abwechselnd in beiden Ländern kandidiert, sind sich einig: “Die Politik und die nationalen Regierungen haben versagt. Sie denken nur an ihre nationalen Interessen. Sie haben keine Idee, keine Vision von Europa. Sie können Europa den Bürgern nicht erklären. Das fördert das Wiederaufleben des Nationalismus und den Populismus.” Deshalb, so ihre Schlussfolgerung, müssten die Bürger die Geschicke Europas jetzt selber in die Hand nehmen. “Wir müssen sie überzeugen. Die Märkte mögen vieles falsch machen, aber hier tun sie das Richtige: Sie treiben die Politik zur Wirtschafts-, Sozial- und politischen Union”, sagt Verhofstadt. Heute, vier Jahre nach Veröffentlichung des Manifest, erscheint die Umsetzung derzeit realpolitisch unmöglich, zu stark läuft der gegenwärtige politische Mainstream in Europa gegen eine solche Vision.

Friede und Wohlstand

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick zurück auf die Arbeit der Gründerväter der heutigen EU zu werfen: Europa war nach dem 2. Weltkrieg in jeder Hinsicht ein Trümmerhaufen. Die – nicht ganz uneigennützige – jedoch effektive Hilfe der USA mit dem Marshall Plan für Europa und der mutige Schritt des französischen Außenministers Robert Schuman, Deutschland nach drei Kriegen innerhalb von 70 Jahren die Hand zu reichen waren Fundamentsteine für den Wiederaufbau Europas.

Konrad Adenauer, der deutsche Kanzler hat die ausgestreckte Hand Schumanns ergriffen und damit die deutsch-französische Achse begründet, die bis heute im Großen und Ganzen hält. Das gemeinsame wirtschaftliche und politische Ziel war mit der Gründung der Montan-Union eine so enge Verschränkung der Industrie beider Länder zu erreichen, dass ein einzelnes Land keinen Krieg mehr beginnen konnte. Die Montan-Union wurde um die Benelux Länder erweitert und ging schließlich in die EWG über; das war die Geburtsstunde der heutigen EU, die mit Abschluss der römischen Verträge 1957 besiegelt wurde.

Nochmals, das treibende Moment hinter der Gründung der EU war der Wunsch, dass nie wieder Krieg von Europa ausgehen möge und eine enge wirtschaftliche Verflechtung aller Mitglieder zum gemeinsamen Wohl beitragen sollte.

Eine starke Vision in der Tat und beide Ziele wurden erreicht (wenn man vom Jugoslawischen Nachfolgekrieg absieht). Heute wird der Frieden in Europa als selbstverständlich hingenommen und die allgemeine Wohlfahrtssteigerung ist unübersehbar, wiewohl das Thema einer „gerechten“ Wohlstandsverteilung kontroversiell bleibt. Viele Stimmen sprechen von einer „Neugründung der EU“, rufen „zurück an den Start“, etc. Ich kann mit solchen Zurufen nichts anfangen; wir können nicht zurück an den Start! Die heutige Situation ist mit der Gründungssituation der EU nicht vergleichbar. Was meiner Meinung nach heute fehlt ist

  1. eine Vision für Europa, die auf die Polykrise Europas überzeugende, nicht unbedingt endgültige Antworten gibt und
  2. eine Kommunikationsstrategie, um diese Vision zu verbreiten und den Menschen in Europa wieder mehr Sicherheit zu geben.

Ausblick

Ich kann diese Vision für Europa nicht gleichsam aus dem Hut zaubern, kann jedoch einige Eckpunkte anbieten, die in solch einer Vision enthalten sein könnten oder dazu beitragen können, diese Vision zu entwickeln:

  1. Die Entwicklung einer Europäischen Vision kann und wird nicht als „big bang“ erfolgen können; wir müssen uns auf einen Prozess der Entwicklung einlassen, mutig und neugierig experimentieren und verschiedene Entwicklungsstufen der Vision austesten; der Entwicklungspfad für diese Vision erfordert prozess-kundige Manager und Politiker. Dieser Prozess muss eng verzahnt werden mit einer Kommunikationsstrategie für alle Europäischen Bürger.
  2. Die Trump Administration wird voraussichtlich Druck auf Europa erzeugen, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Das ist ein Weckruf für Europa, sich in aller Freundschaft von den USA ein Stück zu emanzipieren und dafür auch Ressourcen bereit zu stellen; dazu gehört auch die Schaffung einer Europäischen Armee und auch ein Überdenken der Europäischen Rolle in der NATO, einer Konstruktion, die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammt. Dieser Schritt müsste letztlich auch zu einer Neudefinition der Position der sogenannten „Neutralen“ Staaten Europas führen.
  3. Europa muss seine Beziehungen zu Russland neu definieren, wobei die Berücksichtigung genuiner Europäischer wirtschaftlicher und politischer Interessen in den Vordergrund zu rücken wäre. Gleichzeitig darf das Sicherheitsbedürfnis und die entsprechenden Besorgnisse der Polen und Balten vor einem von ihnen als expansiv wahrgenommenen Russland nicht außer Acht gelassen werden.
  4. Europa sollte unter Nutzung aller vorhandener Instrumente, wie der EU und der Europäischen Investitionsbank (EIB) eine physische und digitale Infrastrukturinitiative starten, die in ihrer Wirkung vergleichbar dem Marshall Plan und dem daraus folgenden ERP Fonds Modell zu einer fortdauernden Verbesserung und Modernisierung der Infrastruktur in Europa führen würde. Die daraus abgeleiteten Beschäftigungseffekte wären für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa bestens geeignet, die Standortvorteile die sich daraus ergeben, würden einen „virtuous circle“ für die Innovationskraft Europas, die wirtschaftliche Stärke und die Beschäftigung auslösen.
  5. Europa muss sich verstärkt der nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen in jenen Weltregionen widmen, von denen mangels ökonomischer Perspektiven ein steigender Migrationsdruck ausgeht. Es muss anerkannt werden, dass Klimawandel und Ressourcenvernichtung in Teilen der Welt die Unterhaltsbedingungen der dort lebenden Bevölkerung verschlechtert haben und weiter verschlechtern werden, womit der Migrationsdruck sich weiter erhöhen wird. Gleichzeitig muss aber auch in diesen Regionen dem Irrglauben massiv entgegengetreten werden, dass Europa alle Migranten aufnehmen kann oder wird.
  6. Die Außengrenzen Europas sind konsequent zu schützen, dafür kann sich innerhalb der Union der freie Waren- und Personenverkehr (wieder) entfalten. Für den vor den Toren Europas stehenden Einwanderungsdruck (der nicht nachlassen wird!) sind ausreichende, menschenwürdige und sichere Auffangräume zu schaffen.

Abschließend noch ein „ceterum censeo“ für Österreich, oftmals von klugen Köpfen gefordert und trotzdem nicht umgesetzt:

  • Deutlich mehr Investitionen in Bildung und Forschung
  • Einsparungen durch Bürokratieabbau auf allen Ebenen (Vorschläge nachzulesen in den Rechnungshof Berichten)
  • Bundesstaatsreform (die Leitlinien wurde im Konvent erarbeitet) und Rückführen der Föderalismusauswüchse auf ein der Größe des Landes adäquates Maß

Ich bin überzeugt, dass auch aus einem kleinen Land wie Österreich solche politischen Impulse für Europa hilfreich sein können.